Von der Hochbegabung zur Hochleistung

Es gibt zahlreiche Definitionen für den Begriff Hochbegabung. Je nach dem Zusammenhang und dem Zweck für den die Definition erstellt wurde, unterscheiden sie sich in ihrer Breite und darin welche Bereiche mit einbezogen werden.

Als sehr offen angelegte Erklärung kann jene von Gagne (1993) bezeichnet werden. Er sieht Begabung als ein Potential für hervorragende Leistungen an und geht davon aus, dass Kinder von Geburt an verschiedene Begabungen in unterschiedlicher Ausprägung besitzen. Dabei unterscheidet er zwischen Bereichen wie etwa der intellektuellen, der kreativen, der sozioaffektiven oder der sensumotorischen Begabung. Liegt in einem oder in mehreren dieser Bereiche eine besonders ausgeprägte Befähigung vor, kann dies als Grundlage für die Entwicklung von hervorragenden Fähigkeiten im späteren Leben angesehen werden.

Um von Begabungen zur voll entwickelten Leistung zu gelangen, bedarf es allerdings adäquater Möglichkeiten des Lernens, des Trainings und der Praxis. Diese selbst wiederum werden durch zahlreiche Faktoren beeinflusst, die zum Teil innerhalb der Person selbst, aber auch im Umfeld zu finden sind. Bei den sogenannten intrapersonalen Katalysatoren sind die Bereiche der Motivation (z.B. Interesse, Ausdauer, Initiative,...) und der Persönlichkeit (z.B. Autonomie, Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl,...) als besonders entscheidend hervorzuheben. Die Umweltfaktoren umfassen den weiten Bereich der Personen, die den Heranwachsenden umgeben, des Kulturkreises, in dem er aufwächst, besonderer Ereignisse und Erlebnisse, die er erfährt, aber auch der Zufall spielt hier oft eine große Rolle.

Das Zusammenspiel von intrapersonalen und Umweltkatalysatoren und den Lern- und Trainingsmöglichkeiten entscheidet darüber, in welchem Ausmaß die volle Entwicklung der kindlichen Potentiale gelingt.

Retrospektive und prospektive Studien mit Hochbegabten zeigen, dass der tatsächliche Erfolg in Schule und Beruf zwar Begabungen als Grundlage benötigt, dann aber im wesentlichen durch nichtkognitive Faktoren wie Motivation, Zielstrebigkeit, Ausdauer und durch Unterstützung in Elternhaus und Schule bedingt ist (Schneider, 2000).

Als wesentliche Voraussetzung für das Erbringen von Leistungen wird immer wieder die Leistungsmotivation genannt. Heckhausen (in: Thomae, 1965, S 604) definiert dieses psychologische Konstrukt wie folgt: "Leistungsmotivation ist das Bestreben, die eigene Tüchtigkeit in all jenen Tätigkeiten zu steigern oder möglichst hoch zu halten, in denen man einen Gütemaßstab für verbindlich hält und deren Ausführung deshalb gelingen oder misslingen kann."

Welche Verhaltensweisen zeichnen Leistungsmotivierte aus?

Er bezeichnet folgende Merkmale als besonders hervorstechend (Heckhausen, 1980):

  • Eine von Leistungsmotivation geleitete Person wird ständig ihre Leistungen an ihrem eigenen Standard messen und mit der ihres "Gegners" vergleichen.
  • Sie zeigt bei Leistungsaufgaben starken, langanhaltenden Kräfteeinsatz, vor allem dann, wenn sich ihr Hindernisse in den Weg stellen.
  • Sie zeigt unterschiedliche Reaktionen auf Erfolg bzw. auf Misserfolg.

Bei der Entwicklung des kindlichen Strebens nach Leistung spielt die Umwelt eine entscheidende Rolle. Die Erfahrungen die das Kind in den ersten Lebensjahren macht, bilden sogenannte Vormotive, also eine Erfahrungsschatz, der die Grundlage für die spätere Ausbildung der Leistungsmotivation darstellt.

Erst im kognitiven Alter von 2 œ bis 3 œ Jahren kann bei Kindern von leistungsmotiviertem Handeln gesprochen werden. Vorraussetzung für das Erreichen dieser Stufe ist, dass das Kind fähig sein muss, sich bewusst handelnd und effektproduzierend mit den Objekten seiner Umwelt auseinander zu setzen und zwischen Gütegraden von Handlungseffekten zu unterscheiden weiß. Außerdem muss es in der Lage sein, einen erreichten Erfolg bzw. Misserfolg seinen eigenen Fähigkeiten oder seinen Bemühungen zuzuschreiben.

Der Beginn der Leistungsmotivation zeigt sich zumeist in der Reaktion des "Selbermachen- Wollens" von 2 - 3jährigen, wobei die Kinder eine bewundernswerte Ausdauer aufbringen, in der Funktionslust und in der beginnenden Selbständigkeit. Während diese Entwicklung bis zum Eintritt in die Schule zumeist autonom und individuell abläuft, muss sich das Kind mit Schuleintritt mit neuen sozialen Normen und Rollenerwartungen auseinandersetzen. Erziehungserwartungen und -ziele von Eltern und Lehrern spielen eine wesentliche Rolle für die weitere Ausprägung der Leistungsmotivation. Zu hoch aber auch zu niedrig angesetzte Leistungserwartungen wirken sich hemmend aus.

Während jüngere Kinder in ihrem Streben nach Leistung noch stark von der Zustimmung der Umwelt (Lob und Belohnung durch Eltern und Lehrer) abhängig sind, ist das Ziel der Schule selbständige Lerner hervorzubringen wesentlich von der Entwicklung intrinsischer Motivation abhängig.

Intrinsische Leistungsmotivation, d.h. das Erbringen der Leistung bzw. das Erlernen einer neuen Fähigkeit selbst als das Ziel der Bemühungen und nicht die Anerkennung durch die Umwelt oder das Erreichen bestimmter Noten, kann durch die Gestaltung des pädagogischen Umfeldes gefördert oder gehemmt werden.

Stipek (1998) führt unter anderem folgende förderliche Faktoren an:

  • Aufgabenstellungen, die Schüler herausfordern, einen höheren Grad an Komplexität und Neuartigkeit aufweisen, die Interessen der Schüler ansprechen und die Möglichkeit zur Kooperation geben;
  • Beurteilung bzw. Belohnung der Anstrengung (im Gegensatz zur Belohnung des Endergebnisses); Belohnung der Verbesserung der eigenen Fertigkeiten; Noten mit hohem Informationsgehalt; informative Feedbacks; klare und faire Beurteilungskriterien;
  • Hilfestellung für Schüler beim Erstellen eigener Ziele; Mitsprachemöglichkeit für Schüler bei der Unterrichtsgestaltung;
  • Gestaltung des Klassenklimas hin zum respektvollen Umgang miteinander, zur Klasse als Gemeinschaft Lernender und zur Klasse als risikofreier Umgebung (Fehler sind erlaubt!).

Es zeigt sich deutlich, dass die Entwicklung von Leistungsmotivation nicht unabhängig von den kognitiven Fähigkeiten gesehen werden darf. Denn schon in den ersten Jahren hängen die Vorläufer der Leistungsmotivation weniger vom biologischen Lebensalter sondern vielmehr vom kognitiven Alter ab. Im schulischen Bereich müssen Aufgabenstellungen immer im Zusammenhang mit dem tatsächlichen Leistungsstand des jeweiligen Schülers erstellt werden, um ein Förderung im Bereich der Motivation zu ermöglichen.

Um ein bestimmtes Lernziel zu erreichen, muss der Lernende sich ausdauernd mit den an ihn gestellten Aufgaben befassen. Diese von Schülern immer wieder erwartete bzw. bei ihnen von Lehrern oft vermisste Ausdauer kann jedoch nicht als von der jeweiligen Aufgabenstellung unabhängig betrachtet werden. Um sich mit einer Aufgabe bis zur Lösung hin zu beschäftigen, bedarf es der Aktivierung des Lernenden. Das Ausmaß dieser Aktivierung bestimmt über den Erfolg der Arbeit. Zu geringe Aktivierung führt zu Unachtsamkeiten, zu Langeweile, zu mangelnder Konzentration und damit zu einer hohen Wahrscheinlichkeit des Versagens. Zu hohe Aktivierung dagegen spiegelt sich in Nervosität, Hektik und damit ebenfalls einer vermehrten Fehleranfälligkeit wieder. Für das Ergebnis wäre daher eine Aktivierung im mittleren Bereich ideal.

Das Ausmaß der Aktivierung hängt sehr stark von der jeweiligen subjektiv erlebten Schwierigkeit einer Aufgabe ab. Zu einfache Aufgaben langweilen, machen schläfrig und werden wenn überhaupt oft nur oberflächlich und fehlerhaft gelöst. Zu schwierige dagegen erzeugen Hektik, Angst und Panik. Optimale Leistungen sind daher durch optimale, d.h. mittelschwere Aufgaben zu erzielen und diese ideale Aufgabenschwierigkeit hängt wiederum von der Leistungsfähigkeit des Einzelnen ab.

Dieses Phänomen führt dazu, dass hochbegabte Kinder bei einfachen Aufgaben vielfach versagen und erst bei schwierigeren ihre volle Leistungsfähigkeit zeigen können.

Um motiviert und ausdauernd an einer Aufgabe zu arbeiten, bedarf es auch eines Zieles das am Ende der Arbeit stehen soll. Die Befriedigung nach langer Anstrengung dieses Ziel erreicht zu haben, stellt einen weiteren Baustein für den Aufbau intrinsischer Leistungsmotivation und eines leistungsorientierten Arbeitsverhaltens dar. Zu lernen, wie sinnvolle Ziele gesetzt werden und wie der dorthin führende Weg zu planen ist, sind wichtige Lernschritte, die während der Schulzeit durchlaufen werden sollten. Die Problematik hochbegabter Kinder und Jugendlicher ist oft, dass die Ziele, die sie sich selbst setzen jenseits ihrer Fähigkeiten liegen, die Zielvorgabe des regulären Lehrplanes jedoch weit unter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. Im Spannungsfeld dieser Diskrepanz kommt es zu massiven Frustrationen, denn die eigenen Ziele werden nicht erreicht und von der Schule gesetzte Ziele werden als zu niedrig gesehen und können daher bei Erreichen auch nicht als motivierend erlebt werden.

Aber nicht nur nicht-kognitive Faktoren spielen bei der Realisierung von Fähigkeiten eine wesentliche Rolle. Auch die Einstellung von Eltern, Lehrern und Freunden entscheiden darüber, ob der Weg zur Leistung erfolgreich beschritten werden kann.

Begabte Kinder sind in der Entwicklung ihres Selbstwertgefühls ebenso von Lob und Anerkennung der Autoritätspersonen rund um sie abhängig wie anderen Kinder auch. Werden die Fähigkeiten des Kindes immer wieder in Zweifel gezogen bzw. wird das gesamte Verhalten eines Kindes ständig nur unter dem Aspekt der Hochbegabung betrachtet, führt dies zu großen Verunsicherungen. Auch Hochbegabte machen Fehler und auch sie haben gute und schlechte Tage.

Hochbegabte Kinder und Jugendliche neigen zu Perfektionismus. Sie lernen ihre Standards hoch zu setzen und erwarten von sich selbst, immer höhere Leistungen zu erbringen, oft mehr als ihren Fähigkeiten entsprechen würde. So kommt es zur Dissonanz zwischen ihren aktuellen Leistungen und denen, die sie von sich selbst erwarten. Hier liegt es an den Eltern und Lehrern dieser Entwicklung entgegenzuwirken und sie nicht durch ihre eigenen Erwartungen noch zu verstärken.

Mit fortschreitendem Alter nimmt die Rolle der Gruppe der Gleichaltrigen für die Entwicklung des Selbstbildes an Bedeutung zu. Der Druck der Peergroup zur Konformität kann bei begabten Jugendlichen bis zur Negierung selbst herausragender Fähigkeiten führen.

Eine weitere Belastung, der sich zahlreiche hochbegabte Schüler ausgesetzt fühlen, ist die in der öffentlichen Diskussion oft vertretene Meinung, dass hohe Begabungen auch unweigerlich hohe Verantwortung für die Zukunft der Gesellschaft nach sich ziehen. Immer wieder als die zukünftigen Führer in Wirtschaft und Wissenschaft bezeichnet zu werden, setzt Hoffnungen in Jugendliche, die massive Zukunftsängste auslösen können. Sie fühlen sich durch diese überzogenen Erwartungen in ihren Entscheidungen für den eigenen Lebensweg eingeschränkt und eingeengt.

Es zeigt sich, dass auf dem Weg vom Potential der Begabung hin zur aktuellen Leistung eine Vielfalt von Faktoren entscheidenden Einfluss ausüben. Begabung und Leistung kann nicht unabhängig von Persönlichkeit und Umfeld gesehen werden. Vielmehr sind sie eng und untrennbar miteinander verbunden.

Für Pädagogen und Bildungsplaner ergibt sich damit die Forderung in ihren Konzepten nicht die Förderung von einzelnen Fähigkeiten sondern vielmehr die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Nicht die abstrakte Fähigkeit sondern der Mensch, nicht die Hochbegabung sondern der Hochbegabte ist zu fördern.

Andrea Richter, Leiterin schulpsychologischen Dienstes des Landesschulrats für Niederösterreich

Literatur

  •  Gagne, F. (1993): Constructs and models pertaining to exceptional human abilities. In: Heller, K.A. et al. (Hrsg.) (1993): International Handbook of Research and Development of Giftedness and Talent. 1st ed. Oxford: Pergamon Press. p. 69-88.
  • Heckhausen, H. (1980): Motivation und Handeln. Lehrbuch der Motivations Psychologie. Berlin: Springer.
  • Schneider, W. (2000): Giftedness, expertise, and (exceptional) performance: a developmental perspective. In: Heller, K.A. et al. (Hrsg.) (2000): International Handbook of Giftedness and Talent. 2nd ed. Oxford: Pergamon Press. p. 165- 178.
  • Stipek, D. (1998): Motivation to Learn. 3rd ed. Boston: Ally and Bacon.
  • Thomae, H. (1965): Handbuch der Psychologie. Bd 2/ 2. HBd. Göttingen: Hogrefe.