Der Standard, 11.11.2005

Dort wird gedrillt bis in die Nacht

Sind Begabung und begabtes Verhalten synonym? Ja, sagt der US–Erziehungspsychologe Joseph Renzulli. Mit Michael Freund sprach er über Möglichkeiten der Förderung von jungen Genies und den Spaß am Lernen.

Wien – Der US–Erziehungspsychologe Joseph Renzulli war Hauptvortragender auf einem von den Popper–Schulen in Wien veranstalteten Symposium zur Begabungsförderung. Er hat das Enrichment Triad Model entwickelt, das drei Typen von Förderungs–/ Bereicherungsaktivitäten vorsieht. Ferner ist er der Urheber eines Modells von Begabung, in dem sich drei Ringe überschneiden: überdurchschnittliche Fähigkeiten, Kreativität und Konzentration auf eine Aufgabe. Renzulli sprach über Möglichkeiten und Grenzen von Begabtenförderung.

STANDARD: Wie grenzen Sie Ihre Modelle gegeneinander ab?
Renzulli: Das Drei–Ringe–Modell handelt von einer bestimmten Auffassung von Begabung (giftedness). Beim Triadenmodell geht es darum, wie man Begabung entwickelt. Es ist ein pädagogisches Modell, vielleicht das am weitesten verbreitete in den USA; es geht um drei Arten von Bereicherung (enrichment) bei schulischer Entwicklung.
STANDARD: Beide Male die Zahl drei: ein Zufall?
Renzulli: Ich habe die beiden Modelle gleichzeitig entwickelt, Mitte der Siebziger. Wenn man Begabung so wie ich als drei Ringe sieht, dann braucht man die drei Stadien der Bereicherung, wie sie die Triade darstellt. Aber nicht eins zu eins.

STANDARD: "Giftedness", das bedeutet auch, dass man etwas geschenkt bekommt.
Renzulli: Oder dass jemand etwas schenkt. Ich verwende es weniger als Zustand denn als Entwicklung, als Tätigkeit: die Entwicklung von Begabung. Ich betrachte Begabung und begabtes Verhalten als synonym. Es entwickelt sich eben in verschiedenen Menschen verschieden, darum sage ich nicht: Von diesen 100 Schülern sind fünf begabt, sondern eher: Das sind eben in dieser Schulstufe die Besten in Mathematik oder im Kunstunterricht. Die Hauptfrage ist, was man aus diesem Potenzial macht. Und da kommt mein Drei–Ringe–Modell ins Spiel, in Form des "task commitment" – das bedeutet, dass die Motivation fokussiert wird.

STANDARD: Wie beurteilen Sie das Potenzial der Popper–Schulen generell?
Renzulli: Wenn hier viele begabte Schüler beisammen sind, hat es den Vorteil, dass die Basics schneller gelernt werden. Es gibt also mehr Zeit für das Zusätzliche, das, was die Schule auszeichnen soll.

STANDARD: Was halten Sie von dem Trend in den USA, Schüler und Schulen immer intensiver durch Tests zu vergleichen?
Renzulli: Kaum stehen einige amerikanische Lehrer beisammen, klagen sie darüber, dass sie nur noch testen und getestet werden und nicht mehr unterrichten können. Andererseits hängt das kulturelle und wirtschaftliche Wachstum einer Nation von der kreativen Produktivität der Menschen ab. Die sollte in Schulen gefördert werden. Sie ist etwas, um das wir von den Asiaten beneidet werden. Unsere Erziehungsexperten sagen immer: Schaut euch den Osten an, wie gut die in Mathematik und den Naturwissenschaften sind, so wie dort sollten unsere Schulen sein! Und zugleich wollen die Chinesen, Japaner und so weiter unser Modell kopieren. Dort wird gedrillt bis in die Nacht, bei uns werden eher die kreativen Fähigkeiten gefördert.
STANDARD: Zugleich aber werden doch – an öffentlichen US–Schulen – durch Tests abfragbare Fähigkeiten verlangt.
Renzulli: Zurzeit wächst dieser Druck, aber zugleich steigt die Fähigkeit der Lehrer zur "creative compliance": die Orders von oben kreativ auszulegen. Sie wollen vor allem, dass Lernen für die Schüler ein Vergnügen bleibt. Ich glaube, das ist das wichtigste Ziel. So lernen wir am effizientesten.

STANDARD: Das war schon bei Tom Sawyer so.
Renzulli: Das war schon bei den Höhlenmenschen so.

ZUR PERSON:
Joseph S. Renzulli (68) ist Professor für Erziehungspsychologie an der University of Connecticut mit dem Forschungsschwerpunkt Begabtenförderung. Er ist Konsulent für zahlreiche Schulen in aller Welt.

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