Der Standard, 18.11.2005

Sir–Karl–Popper: Keine Langeweile für Hochbegabte

"Ich bewundere gute Reckturner." Der Wiener Stephan Bauer zählt zu jenen zwei Prozent der Bevölkerung, die als hoch begabt gelten. An der Sir–Karl–Popper– Schule in Wien kann er seine Talente unter Gleichrangigen ausleben – Österreichs einziger Musterschule für Musterschüler.

Stolz des Direktors

"Stephan ist unser Jahrgangsbester, ein echtes Juwel. Und ja, er hat auch Brillen", meint Schuldirektor Günter Schmid fast entschuldigend. Er wolle ganz sicher nicht in Klischees verfallen, aber Stephan Bauer (17), derzeit in Vorbereitung auf seine Matura in der Wiener Sir–Karl–Popper–Schule und wohl mit einem IQ über 130 gesegnet, entspricht ziemlich genau dem, was man sich unter einem Hochbegabten vorstellt.

Er hat auf alles eine Antwort

Er ist blass, ein wenig schlaksig, sicherlich nicht sportlich, trägt seine rotblonden Haare praktisch kurz und hat helle, wache Augen, die hinter einer großen, randlosen Brille sein Gegenüber mustern, als gelte es, eine etwas kompliziertere mathematische Formel zu entschlüsseln. Wenn er spricht, bildet er höfliche, formvollendete Sätze. Jedes Wort landet auf seinem Platz. Er hat auf alles eine Antwort, und wenn er sie ausnahmsweise nicht hat, sagt er "Gute Frage" und denkt eine Sekunde länger nach als sonst, bevor er Luft holt und zu einer klugen wie gescheiten Bemerkung ansetzt. Aus der Ruhe bringen lässt er sich nach eigenen Angaben nur, wenn sein Computer streikt.

Außergewöhnlich

Es ist diese fast erschreckend abgeklärte Artikulationsfähigkeit, die Stephan besonders macht. Jungs mit hoher Auffassungsgabe, einem klaren Verständnis für logische Zusammenhänge und Talent für Naturwissenschaften gibt es viele. Inselbegabungen nennen Forscher diese Fähigkeiten in einem besonderen Bereich. Menschen mit außergewöhnlichem Talent in mehreren Sparten sind seltener. Stephan gehört dazu – so wie rund zwei Prozent der Schüler seines Jahrgangs und jene 30 Buben und Mädchen, die mit ihm die achte Klasse der öffentlichen Popper–Schule besuchen.

Sie ist die einzige ihrer Art in Österreich. "Leistungssegregation" und "geschützte Werkstätte", lauteten die Schlagworte der Kritiker, als das ÖVP–Prestigeprojekt 1998 (Initiator war Ex–Stadtrat Bernhard Görg) eröffnet wurde. Der Stand der Forschung ist, dass Hochbegabte besser im Rahmen der normalen Schule mit Kursen und Projekten gefördert und nicht "selektiert" werden.

Versuch der Vernetzung

Inzwischen bemüht sich Direktor Schmid, die Popper–Schüler mit jenen des "Wiedner Gymnasiums", die im gleichen Gebäude untergebracht sind, stärker zu vernetzen – mit geringem Erfolg. "Die Verschränkung funktioniert nicht. Wir haben einen völlig anderen Arbeitsstil", meint er. Der begabtenübergreifende Unterricht beschränkt sich derzeit auf den Sportunterricht und gemeinsame Schulausflüge.

Eine nicht ganz einfach Situation, meint auch Stephan. Trotzdem liebt er seine Schule, sie dominiert sein Leben. Ein kleiner Auszug aus seinem Stundenplan, der eigentlich ein "Kursplan" ist, denn in der siebten und achten Klasse setzen die Popperianer ihre Schwerpunkte selbst – ähnlich wie auf der Universität. Am Freitag wird er in Französisch ein Referat über den Film "La Bicyclette Bleue" halten. In Englisch steht "War Poetry" auf dem Programm, Gedichte aus dem Ersten Weltkrieg. In Physik "schließen wir gerade die Relativitätstheorie ab", und in Philosophie werden die Vorsokratiker diskutiert. Dazu kommt individuelle Lernzeit und zwei Stunden Turnen – bei Letzterem klingt Stephan ausnahmsweise nicht enthusiastisch. "Ich bewundere Reckturner", gesteht er. Freitag ist übrigens sein kürzester Schultag, da ist er schon um 17.00 Uhr fertig.

Popper–Partys

Nebenbei geht sich Klavierspielen, Fotografieren und Homepagegestalten als Hobbys gerade noch aus – Ausgehen und Mädchen noch nicht. Ersteres ist für den überzeugten Nichtraucher und De–facto–Antialkoholiker "nicht so attraktiv", Zweiteres ein "zeitliches Problem. Es ist schwer, jemand zu finden, der Verständnis für diese Schule hat." Deswegen gibt es, wenn, dann eher schulinterne Beziehungen und zweimal im Jahr "Popper–Partys". "Man muss eben Prioritäten setzen", sagt Stephan etwas betrübt.

Früher als Streber abgestempelt

Schon in der Volksschule ist Stephan, der derzeit nur weiß, dass er irgendetwas Natur– oder Formalwissenschaftliches studieren will, aufgefallen. Seine Eltern – der Vater Professor an der "Höheren Graphischen Bundes–Lehr– und Versuchsanstalt", die Mutter Hausfrau – haben ihren einzigen Sohn von Anbeginn zu Hause gefördert. Stephan kam nie in den Kindergarten. In der Volksschule und der Unterstufe im Wiener Schottengymnasium galt er dann schnell als Streber ? ein klassisches Hochbegabten–Stigma.

Kein Drama

Anders als viele Geniegenossen durchlief Stephan aber nicht das "Drama des begabten Kindes". Vielfach langweilen sich die kleinen Einsteins im Unterricht, werden unruhig und schnell als "verhaltensauffällig" eingestuft. In der Popper–Schule sorgen Coaches und das Fach "Kommunikation und Sozialkompetenz" dafür, dass Persönlichkeitsentwicklung und Intelligenzquotient nicht auseinander klaffen. "KoSo" ist bei den Schülern überaus beliebt. Hier können sie gruppendynamische Prozesse reflektieren, die in anderen Schulen meist in den Pausen am Gang ausgetragen werden – nonverbal.

"Hochbegabte sind sehr unterschiedlich. Manche kapseln sich ab, manche integrieren sich sehr gut", weiß Stephan. Inzwischen "coachen" die Älteren auch die Jüngeren. Stephan hat sich an seiner alten Schule nur "teilweise" gelangweilt. "Ich habe mich dann eben nebenbei beschäftigt", erzählt er. Zeit für Langeweile hat das "Juwel" Stephan in der Sir–Karl–Popper–Schule definitiv nicht mehr – für viel anderes aber auch nicht. (Barbara Tóth)