Förderung ist nicht gleich Förderung

Nicht Strukturen, sondern Haltungen machen den Unterschied.

Recht auf Förderung

Der Fördererlass des Ministeriums, nach dem alle Schulen ein Förderkonzept erstellen müssen, hat ein Signal in die richtige Richtung gesetzt. Es sieht so aus, als ob man endlich begriffen hätte, dass die Bevölkerung nicht in "Normalbürger", "Minderbemittelte" und "Hochbegabte" einteilbar ist, sondern dass jeder Mensch ein einzigartiges, mit einer oder mehreren partiellen (u.U. besonderen) Begabung(en) ausgestattetes Individuum ist. Der entscheidende Denk(fort)­schritt besteht darin, dass die Förderung dieser partiellen Begabung(en) durch die Schule damit zu einer Art Grundrecht aufgewertet ist, auf das jeder Einzelne pochen kann. Der Begriff der Förderung erhält dadurch eine neue Dimension.

Neue Bedarfsdefinition

Hat man bisher beim Gedanken an Förderung, ausgehend vom gebannten Blick auf die Defizite (gewissermaßen auf die Löcher im Emmentaler), immer nur das Nach­­helfen, die Krücke bei beschwerlichem Vorankommen, im Auge gehabt, so beginnt sich nunmehr der ideologische Nebel zu lichten und die Aussicht auf eine neue Sicht­weise frei zu geben: aus dem oben Ausgeführten ergibt sich als logische Konsequenz, dass nicht begabungsadäquates Fortschreiten in einem beliebigen Teilbereich als zwingender Anlass verstanden werden muss, mit positiven Fördermaßnahmen dem von der Natur vorgegebenen Plansoll gerecht zu werden. Müssen - dürfen - die langjährig bewährten "Förderkurse" wirklich per definitionem aus­schließlich der Krückenfunktion vorbehalten bleiben? Oder müssen sie nicht auch in gleicher Weise und mit der gleichen moralischen Notwendigkeit als Motoren dort eingesetzt werden, wo (um im Bild zu bleiben) ein an sich athletisch gebauter Körper, durch permanentes Nichterbringen der Leistung, zu der er von der Natur ge­schaffen ist, zu verkrüppeln (und damit nicht nur sich selbst, sondern auch der Gesell­schaft zur Last zu werden) droht? Ob der Grund für das Versagen in der eigenen Trägheit oder in einem Mangel an äußeren Anreizen gelegen ist, ist dabei völlig unerheblich. Handlungsbedarf ist in jedem Fall gegeben.

Missbräuchliche Verwendung des Begriffes "Begabungsförderung"

Dass "Begabungsförderung" in den letzten Jahren weltweit zum publicityträchtigen Schlagwort mutiert ist und infolgedessen heutzutage jede Schule, die etwas auf sich hält, selbige in ihrem Profil ausweist, ändert allerdings nur wenig am Grundproblem. Darf man allen Ernstes erwarten, dass das Angebot eines weiteren EDV- oder Rhetorik- oder Was-auch-immer-Kurses unter dem populär klingenden Etikett des "Enrichment" irgend etwas an der Not des - ebenfalls zur Modeerscheinung gewordenen - "Underachievers" ändert? Angebote müssen zum einen erst einmal angenommen werden. Dazu kommt, dass Angebote der oben beschriebenen Art nicht aus individuellen Lernsituationen heraus entstehen, sondern darauf ausgelegt sind, unterschiedliche Lernertypen gleichzeitig auf dieselbe Weise mit denselben Inhalten zu "fördern". Den individuellen Bedürfnissen und partiellen besonderen Begabungen des Einzelnen kann dabei verständlicherweise nur in äußerst beschränktem Ausmaß Rechnung getragen werden.

Nicht dass derartige Angebote nicht an sich begrüßenswert wären; aber indem sie die Lernenden dazu animieren, sich wie in einem Kaufhaus als Kunden gleichsam umwerben zu lassen, fördern sie eher eine passive Konsummentalität. Hier von (Begabungs-)­"Förde­rung" zu sprechen, ist ein glatter Etikettenschwindel.

"Lebensgestaltendes Lernen"

Richtig verstandene Begabungsförderung will aktive Selbststeuerung des Lernprozesses und Eigenverantwortung bei den Lernenden generieren und sie auf diese Weise befähigen, das eigene Leben bewusst zu gestalten. "Lebensgestaltendes Lernen" sollte jeder Schule als ultimatives Ziel vor Augen stehen. Ein so ehrgeiziger Anspruch kann aber nicht einfach durch zusätzliche Angebote oder strukturelle Veränderungen im Kleinen verwirklicht werden: hier ist ein grundsätzliches Umdenken des gesamten Systems gefragt.

Neuer Denkansatz

Das Ministerium scheint in der Tat mit diesem Umdenkprozess begonnen zu haben. Im nächsten Schritt wird es wichtig sein, dass die Landesschulräte ihren Teil der Ver­antwortung darin erkennen, den einzelnen Schulen bei der Durchführung dieses inno­vativen, für viele revolutionären pädagogischen Ansatzes ausreichende Rückendeckung zu gewähren und sie zu ermutigen, unorthodoxe Experimente selbst auf das Risiko des Scheiterns hin zu wagen. Sinnvolle Fördermaßnahmen werden nämlich naturgemäß von Stand­ort zu Standort, von Klasse zu Klasse, unter Umständen von Schüler zu Schüler verschieden sein (müssen), weil es keine zwei vergleichbaren Schul-, Klassen-, Schülersituationen gibt. Und Individualisierung als oberstes Prin­zip jeglicher (nicht nur der Hochbegabten-) Förderung darf nicht zum Schlagwort verkommen. (Die auf vielen Tagungen und internationalen Kongressen immer spürbarer werdende Tendenz, auf theoretischen überlegungen und zahlenmäßigen Erhebungen basierende allgemein gültige "Rezepte" anzubieten - ich möchte dafür den Begriff der "Statistifizierung" der Begabungsförderung prägen -, stellt eine Besorgnis erregende Entwicklung dar.)

Eine Schule ist nicht umso "begabungsfördernder", über je mehr Lehrer(innen) mit ECHA-Ausbildung sie verfügt und auf je mehr sogenannte "Enrichment"-An­ge­bo­te sie verweisen kann. ("Sogenannt" deshalb, weil dieser Modebegriff nur allzu oft im Sinne einer quantitativen Anreicherung des Angebots anstelle einer qualitativen Bereicherung der initiierten Lernprozesse missdeutet wird.) Worauf es ankommt, ist vielmehr der prozentuelle Anteil der Lehrer(innen), die zu einem neuen Rollenverständnis gefunden haben: die in der Person des Lehrenden nicht mehr den "Magister" ("Besserwisser", der "mehr weiß"), sondern den Lernmanager erblicken; oder, wie es das Englische so treffend beschreibt, den "Facilitator", der unterschiedlichen Lernertypen den jeweils bestmöglichen Lernprozess ermöglicht und erleichtert.

Neuer Lehrertyp

Kennzeichen dieses Typus des "begabenden" Lehrers (wie ich ihn geradezu als Gattungsbegriff einführen möchte) ist nicht in erster Linie Fachkompetenz und nicht einmal vordergründig methodische Brillanz. Jede/r Lehrende, der/die in der Lage und willens ist, die Einmaligkeit jedes seiner/ihrer Schützlinge als eines einzigartigen Individuums zu respektieren und dessen uneingeschränktes Recht auf Experimentieren, auf das Stellen bisher noch nicht gestellter Fragen, auf "learning by doing" nach der "trial & error" Methode anzuerkennen, hat die Chance, dieses höchste Gütesiegel, das der Lehrberuf zu vergeben hat, zu erwerben.

Pädagogische Haltung

Richtig verstandene Begabungsförderung ist somit nicht eine Frage von (systemischen) Strukturen oder erlernbarem Wissen auf Seiten der Lehrenden, sondern manifestiert sich in einer ganz bestimmten pädagogischen Haltung seitens der handelnden Personen. Diese Haltungsänderung stellt einen Paradigmenwechsel dar: vom Fokus auf das Lehren (die Dominanz der Methodik, deren Qualität am sichtbaren Produkt gemessen wird) zum Fokus auf das Lernen (mit dem zentralen Ziel der Lernerentwicklung, die aus einem maßgeschneiderten Lernprozess resultiert und erst mittelfristig erkenn- und messbar wird).

Entwicklung geschieht dort, wo kalkulierte Wagnisse eingegangen werden. Der Mut zum Experimentieren (trial) bringt unvermeidlich auch Fehler mit sich (error). Im Sinne der Falsifikations­theorie von Karl Popper bedeutet aber jeder Fehler, sofern auf die Phase des Experimentierens eine Phase der Reflexion folgt, eine Annäherung an die Wahrheit. Dieser Grundsatz, in Fehlern prinzipiell potentielle Lernanlässe zu erblicken, hat für den zu fördernden Schüler in gleicher Weise zu gelten wie für den "begabenden" Lehrer oder für die Schule insgesamt in ihrer Eigenschaft als lernende Institution. Wer Fehler krampfhaft zu vermeiden trachtet begibt sich der Chance, Fortschritte zu machen.

Paradigmenwechsel

Der oben angesprochene Paradigmenwechsel muss demnach auf allen Ebenen stattfinden:

  • Die Schulleitung darf den Lehrenden, diese wiederum dürfen den Lernenden missglückte Experimente nicht als Versagen vorhalten. Beide Teile brauchen Motivation und Ermutigung, sich auf derartige Experimente überhaupt einzulassen.
  • Auf der Ebene der Lehrenden, die sich ja in einem wirklich begabungsfördernden System nur als erfahrenere Mitglieder von (Lern-)Teams, gewissermaßen als Bergführer in gemeinsamen Seilschaften verstehen, wird diese Ermutigung wohl darin bestehen müssen, dass ihnen die Bereitschaft, ihre "amtliche" Autorität zugunsten eines partnerschaftlichen
  • Rollenverständnisses aufzugeben und mit ihrer Experimentierfreudigkeit auch Fehler in Kauf zu nehmen, als wertvolle Beiträge zur assymptotischen Annäherung an die Wahrheit honoriert werden.

    Auf Schülerebene können gezielte strukturelle Maßnahmen hilfreich sein. Als Beispiele seien hier angeführt:

  • die Möglichkeit der Akzeleration durch partielles überspringen (z.B. durch Anwendung des "Drehtürmodells", wo wiederum die Flexibilität der Schulleitung gefordert ist); eine stärkere Individualisierung im inhaltlichen Bereich etwa durch ein Kurssystem (Stichwort "Modulare Oberstufe");
  • der teilweise Ersatz "klassischer" Hausübungen (bei denen unterschiedliche Bedürfnisse von allen Schülern zur selben Zeit in derselben Dosierung mit denselben übungen abgedeckt werden sollen) durch "Assign­ments" . (Unter einem Assignment versteht man ein Bündel differenzierter Aufgaben, die innerhalb einer bestimmten Zeitspanne zu erledigen sind, mit der Möglichkeit einer beschränkten Aus- und Abwahl und jedenfalls freier Wahl des Zeitpunkts der Arbeitserbringung und des Lerntempos).
  • Das Entscheidende an diesen und ähnlichen in die gleiche Richtung weisenden struk­turellen Maßnahmen ist die aus ihnen sprechende Botschaft an die Lernenden, dass sie ihren eigenen Lernprozess maßgeblich selbst steuern können.

Demokratisierung des Lernprozesses

Ob sie allerdings das Gefühl bekommen, dass sie dies auch sollen, dass darin in Wahrheit das eigentliche Ziel zu erblicken ist ("Enrichment" im richtig verstandenen Sinn!), hängt nicht von den strukturellen Angeboten, die das "System" ermöglicht, sondern davon ab, ob diese Demokratisierung des Lernprozesses (in der ich den Schlüssel zur Begabungsförderung erblicke, einen Schlüssel, der allen Schulen in gleicher Weise zur Verfügung steht) von den Lehrenden nicht nur zugelassen, sondern auch gewollt wird. Unmissverständliche Signale in diese Richtung sind neben dem schon angesprochenen "Assignment" etwa die in der Sir-Karl-Popper-Schule bewährte Routine des "Contracting" (einvernehmliche Vereinbarung eines Semester-Arbeitsplans, der Schwerpunktsetzungen, der Arbeitsmittel und -methoden, ja sogar der Formen der Leistungsbeurteilung sowie Offenlegung der Beurteilungskriterien durch die Lehrenden), vor allem aber (als wichtigstes Instrument der Demokratisierung) ein institutionalisiertes Feedbacksystem, das den Lernenden das Bewusstsein vermittelt, ernst genommen zu werden und den äußeren Lernprozess auch beeinflussen und mitgestalten zu können. Ob derartige Signale gesetzt werden, hängt vordergründig von derpädagogischen Haltungdes/der Lehrenden ab - einer Haltung uneingeschränkter Offenheit für innovative Ideen ebenso wie für demokratische Strukturen. Wenn diese Voraussetzung gegeben ist, kann sich jede Schule durch einfache Beseitigung redundanter hinderlicher Hierarchien "kostenneutral" Zugang zur wertvollsten aller Ressourcen verschaffen: dem förderungswürdigen und "förderbaren" motivierten Schüler.

Dr. Günter Schmid, Direktor i. R.

Ausgabe Jänner 2006 des Newsletters des özbf (Österreichisches Zentrum für Begabtenförderung und Begabungsforschung), Seite 17ff.