Görg sei Dank

Wenn Menschen, selbst wenn sie sich nicht kennen, sich eines Tages begegnen sollen, was immer jedem von ihnen auch zustoßen mag und wie verschieden auch ihre Wege sein mögen, so werden sie unweigerlich an diesem Tag in dem roten Kreis zusammentreffen

Rama Krishna, Le Circle rouge, 1970

Reminiszenzen zur Begabungsförderung in Österreich[1]

Der Kampf um die Begabungsförderung in Österreich ist untrennbar mit den jahrzehntelange "schulpolitischen" Auseinandersetzungen der beiden großen ideologischen Lager - Sozialdemokraten und christlich-soziale Volkspartei - verbunden. Auch die bedauerliche Verspätung, mit der begabungsfördernde Schulversuche in Österreich eingeführt worden sind, ist nur vor dem Hintergrund dieses ideologischen Spannungsfeldes verständlich.

Auf der Basis eines soliden gegenseitigen Mißtrauens verlief die Diskussion so, daß jahrelang jeder Vorstoß für Begabungsförderung nach dem Muster der "üblichen Verdächtigungen" abgehandelt wurde. So gesehen unterschieden sich die Diskussionen kaum von dem, was man von den Debatten "Gesamtschule" gegen AHS-Langform, pro oder contra Ganztagsschulen oder der Auseinandersetzung zwischen öffentlichen Schulen und Privatschulen sattsam kannte. Das Ritual war das gleiche, die Argumentationslinien ebenfalls. Jedes Verlangen der Volkspartei, wonach die Begabungsförderung dem gesunden Hausverstand folgend doch nicht nur auf die Förderung der Sportasse oder Musiktalente beschränkt bleiben, sondern auch im schulischen Alltag umgesetzt werden solle, stieß auf brüske Ablehnung des sozialdemokratischen Lagers. Dieses vermutete hinter solchen Vorstößen - sagen wir fairerweise: historisch nicht ganz unverständlich - weniger eine bildungspolitische Absicht als den Wunsch nach Schulformen, die sozial exklusiv und Oberschichtseliten vorbehalten sein sollten. Dementsprechend wurde die Debatte um Begabungsförderung auch sprachlich immer mit "Eliteschulen" und "Eliteförderung" gleichgesetzt, was das gegenseitige ideologische Mißtrauen nur noch verschärfte.

Da der schillernde Begriff der "Elite" von sozialdemokratischer Seite vorschnell meist mit Abstammungs-Eliten und nicht mit Leistungseliten gleichgesetzt wurde, glaubte man, darin erst recht die "wahren Absichten" der Vertreter der Begabungsförderung entdeckt zu haben: Schulen für die Kinder der "Haves" und nicht der Have nots; soziale Refugien, in denen die Bessergestellten besser gestellt wurden, die Starken stärker, Privilegierte privilegiert werden sollten.

Begabungsförderung schien also, durch diese ideologische Brille gesehen, eine klare Absage, mehr noch: Eine Kampfansage an eine Schulpolitik, die an Gleichheit und sozialgerechter Chancenverteilung orientiert ist.

Wie in der "Rabenschlacht", von der die Sage weiß, daß nach dem Ende des irdischen Schlachtens die Geister der Toten noch in den Lüften weiterkämpften, verlagerte sich die Diskussion um die Begabungsförderung endgültig weg von der schulpolitischen Praxis in das realitätsabgewandte, dafür um so vorurteilsreichere ideologische Jenseits. Die tagtägliche pädagogische Wirklichkeit mußte geradezu mutwillig übersehen werden, um parteipolitische Frontstellungen und Positionierungen um so klarer vorzunehmen. Schuld trifft hier - wenn auch nicht zu gleichen Teilen - beide großen politischen Lager. Auf der einen Seite bemühten sich die Befürworter der Begabungsförderung nicht immer, ihren Elitebegriff zu präzisieren. Dies wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil man hier tatsächlich auf jene gebildete und wohlhabende Wählerklientel schielte, die man im Gefühl des "ich lieg und besitze" wußte und der man nicht allzu viel von einem allein selig machenden Leistungsprinzip predigen wollte. Das Selbstbild mancher Oberschichtsfamilien sollte wohl nicht durch ein Übermaß Max Weber'scher Leistungsethik beunruhigt werden. Ihnen ein Schulwesen in Aussicht zu stellen, in dem man die eigenen Sprößlinge, selbstverständlich gegen Bezahlung eines Schulgeldes - "unter sich" und entsprechend den Begabungen gefördert wußte, schien möglicherweise ein politischer Trumpf.

Auch das zeitliche Zusammenfallen der Vorstöße zur Begabungsförderung mit den - erfolgreichen - Amtsperioden neokonservativer Führungspersönlichkeiten wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan und deren "Voucher-" und "Edison- Vorhaben" nährte das ideologische Mißtrauen. Die Sozialdemokraten sahen zweifellos ihr Pflänzchen der Gesamtschule, das auch von Parteifreunden weder besonders frequentiert noch gefördert wurde, gefährdet. Dementsprechend schallte den Vorstößen von VP- und FP-Politikern zu mehr Begabungsförderung die Antwort entgegen, die Gesamtschule sei schließlich die beste Form der Begabungsförderung, und ein bloßes "Zusammensperren" hoch begabter Individualisten aus den verschiedensten Neigungs- und Interessensgebieten sei noch kein sozialpsychologisch durchdachtes Konzept, sondern bestenfalls eine pseudopädagogische Lebensborn-Idee. Nachdem man so sein rhetorisches Mütchen gekühlt und den Status quo verteidigt hatte, konnte man getrost zur schulpolitischen Haupttätigkeit, der Verteidigung der eigenen Lehrerklientel und dem politischen Ausbau der Postenanteile in den Leitungsfunktionen, zurückkehren.

Die ÖVP und - am Rande - die SPÖ waren in der gesamten Diskussion um Begabungsförderung sicherlich am aktivsten, die Vertreterinnen und Vertreter der Grünen im Großen und Ganzen jahrelang in der Defensive. Aus sozialdemokratischer Sicht befand man sich aber in einem besonderen Dilemma: Denn zweifellos war das Verlangen der Volkspartei nach Begabungsförderung politisch attraktiv, auch bei eigenen Wählerschichten und besonders in der breiten Schicht bildungsinteressierter und wirtschaftlich dynamischer Wechselwähler. Begab sich die Sozialdemokratie aber vorsichtig auf das Feld der Begabungsfrage, ereilte sie unweigerlich sowohl der Hohn der Grünen, die sie als "Verräter der wahren Lehre" demaskieren, wie auch der Bannstrahl einer ideologisch starren und innovationsfeindlichen Orthodoxie in den eigenen Funktionärsetagen. Deren Verhalten schien allerdings nicht nur den eigenen Genossen, sondern zunehmend auch einer breiteren Öffentlichkeit obsolet und zwiespältig: Gab es doch genügend Vertreter der linken reinen Lehre, die ihre Kinder erfolgreich in genau jenen Eliteschulen des Klassenfeindes untergebracht hatten, den man an Parteitagen und in Aussendungen so wortreich bekämpfte...

Bevor diese Position allerdings zur Karikatur verkommt, muß nochmals der Gesamtzusammenhang der internationalen Bildungsdiskussion jener Jahre zumindest kurz erwähnt werden: Die Forderung nach begabungsfördernden Schulen fiel zeitgleich mit den ersten "Voucher"-Programmen in den USA zusammen, in denen Eltern einen Teil der staatlichen Ausgaben für das Schulwesen bar auf die Hand bekamen (und bekommen), um selbst für ihr Kind die ihrer Meinung nach beste Schule zu suchen. Da die Mittel für diese Bildungsgutscheine aber dem öffentlichen Schulwesen entnommen wurden und die meisten Eltern private Schulen suchten, kam das Resultat einer gigantischen Umverteilung finanzieller Ressourcen von den - ohnehin darniederliegenden - öffentlichen Schulen hin zu Privatschulen gleich. Ähnliches mag - zu Recht oder Unrecht - die Sozialdemokratie auch für Österreich befürchtet haben. Und die zeitgleichen Vorstöße von VP-Politikern für Bildungsgutscheine, um die es übrigens seit der Übernahme des Bildungsressorts durch die Österreichische Volkspartei bemerkenswert ruhig geworden ist, mag dieses Mißtrauen noch gefördert haben. Die Diskussion um die Begabungsförderung trat jedenfalls auf der Stelle. Sie wurde auch durch "Schulversuche" in westlichen Bundesländern nicht sonderlich befeuert. Die dort eingerichteten "Plus-Kurse" mit zusätzlichen Fremdsprachenangeboten in den Ferien hätten vielleicht zwar Volkshochschulen zur Ehre gereicht, waren aber kaum Begabungsförderungsmodelle internationalen Niveaus. Und auch die mit der Begabungsförderung lange Jahre verknüpfte Forderung nach einem "großzügigen Überspringen" von Schulstufen und "D-Zugs-Klassen" klang zwar attraktiv (nach dem Muster "erst 16 und schon in der Champions League"), war aber aus entwicklungspsychologischer Sicht mindestens ebenso bedenklich wie das sture Beharren auf einer allein seligmachenden Gesamtschulideologie.

Die politischen Rollen waren somit über Jahre hindurch klar verteilt: Auf der einen Seite ÖVP und FPÖ, die im Einklang mit internationalen Entwicklungen (insbesondere neokonservativen in den USA, Großbritannien und - schwächer - der Bundesrepublik Deutschland) und begleitet von beträchtlichem Medieninteresse und der positiv gestimmten Neugier vieler Bildungsinteressierter Reformschritte forderten. Auf der anderen Seite eine Sozialdemokratie, die - mit der Furcht eines sozial selektierenden Schulwesens im Nacken - an die Adresse aller Begabungsbefürworter nur das halbbewußte Signal aussandte, daß ihr "die ganze Richtung nicht paßt". Daß diese petrifizierte und hochgradig ritualisierte Situation nur durch außerordentliche Initiativen und überzeugende Persönlichkeiten verändert werden konnte, lag klar auf der Hand.

Die Wiener schulpolitische Situation war Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre ähnlich der auf Bundesebene: Hier wie dort waren die entscheidenden schulpolitischen Positionen von Sozialdemokraten besetzt, die mehr (wie im Falle des damaligen Stadtschulratspräsidenten, der gleichzeitig auch Nationalratsabgeordneter und SP-Bildungssprechers war) oder weniger (wie im Falle des Unterrichtsministers Rudolf Scholten) in der Parteihierarchie verankert waren. Und hier wie dort gab es vitale und scharfzüngige Herausforderer, die - wie der damalige ÖVP-Schulsprecher Gerhard Schäffer - von der Tribüne des Parlaments oder - wie die österreichische Volkspartei im Wiener Landtag - Änderungen der erstarrten inneren Schulorganisation forderten. Die Begabungsförderung war hier - neben dem Verlangen nach mehr Autonomie für die Schulen - ein zentraler Punkt.

In Wien spitzte sich die Situation Anfang der 90er Jahre besonders bemerkenswert zu: Einerseits hatte die Wiener Volkspartei in der Person ihres Obmannes Bernhard Görg einen überzeugten Bildungsbürger gewonnen, der - übrigens selbst als Absolvent eines Lehramtsstudiums - genau jene Sprache fand, die seine bildungsbürgerlichen Kernschichten wie auch viele Wechselwähler verlangten und verstanden: Ein Weg der Schuldiskussion von vermeintlichen oder tatsächlich zu aufwendigen Organisationsreformen und ein Hin zum Individuum Kind, seinen Anlagen, Entfaltungsmöglichkeiten und Begabungen.

Nicht ohne Sympathie sahen viele hier auf der einen Seite einen wackeren, bildungsbewegten Robin Hood, der einer riesigen, zunehmend in Fragen der Eigenorganisation verstrickten Schulverwaltung gegenüberstand. In dieser Situation David gegen Goliath waren die Rollen - und auch die Journalistensympathien - klar verteilt: David hatte alle Chancen, die Unbeweglichkeit des Goliath erschien immer weniger attraktiv. Dies um so mehr, als die Schulpolitik der vorangegangenen Jahre fast eine festgefahrene "Single Issue-Policy" zu sein schien: Mit SP-Mehrheiten für äußere Schulreformen im Sinne einer Herbeiführung der Gesamtschule, was von Volkspartei und Freiheitlichen vehement abgelehnt wurde.

In diese Pro- und Contra-Rituale platzt nur die Forderung nach Begabtenförderung, für die sich der konservative Herausforderer noch dazu eine besonders kecke Feder auf den Hut gepflanzt hatte: Die Bezeichnung eines Schulversuchs zur Begabtenförderung in Form einer Sir Karl Popper-Schule. Dieser Titel erschien doppelt provokant: Popper, der große Kämpfer gegen Vereinfacher und falsche Propheten, war selbst sozialistischer Mittelschüler und Lehrer in Wien gewesen - und zwar ein Pädagoge, der von den Schulreformen des Roten Wien intellektuell unendlich profitiert hatte und ihnen dementsprechend lebenslang positiv gegenüberstand. Die Benennung eines Schulversuchs nach dieser großen Persönlichkeit war aus dem Munde eines konservativen Politikers ein ebenso dreister wie medienwirksamer Vorschlag.

Gestärkt wurde die Position der Befürworter einer Sir Karl Popper-Schule für begabte Kinder durch die Tatsache, daß die Sozialdemokratie in ihrer ersten Wahl unter dem neuen Bürgermeister Michael Häupl ihre absolute Mehrheit verloren hatte und der bisherige Oppositionspolitiker Bernhard Görg als Vizebürgermeister in die Stadtregierung eingezogen war. Die Sir Karl Popper-Schule war nun von der Forderung der Opposition zu einem Programmpunkt in der gemeinsamen Regierungserklärung und erklärten Koalitionsbedingung der Volkspartei aufgerückt. Das hatte ihren Stellenwert zwar entscheidend erhöht, änderte aber nichts an den Schwierigkeiten einer realen Umsetzung. Und das, obwohl alle Vorzeichen (im Land wie mittlerweile auch in der Bundesregierung) in Richtung der VP-Forderung wiesen.

Die Wiener Volkspartei hatte nämlich Glück und Pech in einem. Glück, indem sie in New York auf ein Modell stieß, das offenbar als geeignete schulische Vorlage diente: Die Dalton-School in der Upper East Side Manhattans. Diese hoch angesehene und prestigeträchtige Schule hatte sich in den letzten Jahrzehnten von der sozialpsychologischen und individualpsychologischen Idee ihrer Gründerin Helen Parkhurst ("Education on the Dalton Plan", 1922) zunehmend gelöst und war zu einer - nicht unumstrittenen - Laborschule und einer Eliteeinrichtung für die wohlhabenden und bildungsbegeisterten Oberschichten der Millionenmetropole New York geworden. Die Schwierigkeiten, in denen sich die Dalton-School befand (der Direktor hatte kurz zuvor zurücktreten müssen) waren in Wien wenig bekannt. Und auch die Tatsache, daß das jährliche Schulgeld, das Eltern für den Besuch der Eliteeinrichtung Dalton-School entrichten mußten, wahrscheinlich das Jahresgesamteinkommen vieler durchschnittlicher Wiener Wähler (und auch mancher VP-Mitglieder) überstieg, kümmerte wenig: Das Modell schien aus der unendlichen Ferne österreichischer Bildungsdiskussion gegenüber ausländischen Erfahrungen attraktiv. Die Wiener Volkspartei knüpfte enge und positive Verbindungen an, veranstaltete Symposien und zeigte damit, daß eine bis dahin weitgehend papierene Forderung im Wiener Regierungsprogramm durchaus mit Leben - und internationaler Erfahrung - erfüllt werden konnte.

Zu diesem Glück gesellte sich aber bald das Pech einheimischer Bildungsdiskussion und finanzieller Engpässe. War die Wiener Volkspartei bei einem in Wien unter regem Medieninteresse abgehaltenem Symposion noch optimistisch, vom damaligen VP-Unterrichtsminister Erhard Busek die Mittel für die Gründung einer Schule zu erhalten (die Rede war dabei von fix zugesagten 150 Millionen Schilling), sprachen die tristen Budgetzahlen eine andere Sprache: Eine Umverteilung des bestehenden knappen Bildungsbudgets zu Gunsten einer neu zu gründenden Eliteschule kam selbst VP-intern nicht in Frage. Und die Wiener SPÖ verwies ohnehin auf die alleinige Zuständigkeit des Bundes. Selbst VPUnterrichtsminister Erhard Busek konnte bei allem intellektuellen Verständnis für das Projekt den Gordischen Knoten der Finanzierungsfrage nicht durchschlagen.

Ein Projekt und ausdrücklicher Wiener ÖVP-Wunsch war somit VP-intern zwar politisch abgesegnet, von seiner Realisierung aber so weit entfernt wie eh und je.

Mitschuld daran trugen zweifellos auch jene Vorstellungen, die man aus der Euphorie von Oppositionsforderungen in die Regierungsarbeit mitgetragen hatte, und die nun an den Realitäten einer finanziellen Umsetzung kläglich scheiterten. Die ebenso kühne und folgerichtige wie ansatzweise naive Idee, in einer Sir Karl Popper-Eliteschule sollten "die besten Lehrerinnen und Lehrer die besten Schülerinnen und Schüler unterrichten", wofür die Eltern bezahlen sollten, hätte die österreichische Schulrealität, für die die ÖVP im Bund maßgeblich verantwortlich war, vollkommen umgekrempelt. Schon die Forderung nach einer eigenen Lehrerausbildung (mit entsprechender Auswahl der Kandidatinnen und Kandidaten) für die Sir Karl Popper-Schule stieß VP-intern auf ungläubiges Staunen, war doch gerade die Lehrerausbildung in Österreich ein jahrzehntelanger Zankapfel gewesen, für den man nur mühevoll Kompromisse gefunden hatte. Eine neue Form der Lehrerausbildung hätte jenes Equilibrium zwischen Bund und Land, staatlichen Akademien und solchen der Religionsgemeinschaften, das man in jahrzehntelangen Auseinandersetzungen so mühevoll gefunden hatte, pulverisiert. Es war dies der erste Punkt des Sir Karl Popper-Schulprojektes, welcher der Realität einheimischer Bildungspolitik geopfert werden mußte.

Der zweite betraf die Gebäudefrage und die des Schulerhalters. Unzweifelhaft war man in den anfänglichen Vorstellungen von einem eigenen Haus mit einer eigenen Trägerschaft ausgegangen, ohne daß diese Forderungen präzisiert worden wären. In der Realität zeigte sich nun, daß weder die Mittel zur Errichtung einer Schule noch Finanzierungskonzepte zu deren laufendem Betrieb vorhanden waren. Die Protagonisten der Begabungsförderung und der Sir Karl Popper- Schule mußten Hilfe von außen suchen. Dabei waren sie - auch angesichts des Zeit- und Erwartungsdruckes - vor Fehlschlägen nicht gefeit.

Ein erster Versuch, die Sir Karl Popper-Schule im Rahmen der reformkatholischen Neulandschulen einzurichten, schlug gründlich fehl. Voreilig hatte man die Neugründung angekündigt, in Inseraten beworben und schon die konkreten monatlichen Elternbeiträge bekannt gegeben, als das Projekt - nicht zuletzt auf Grund interner Diskussionen mit dem kirchlichen Erhalter der Neulandschulen - plötzlich gestoppt werden mußte. Daß sich Spott und Häme der politischen Gegner des Projekts in engen Grenzen hielten und auch die österreichischen Journalisten, in deren Blättern immerhin die Inserate erschienen waren, mit Kritik auffallend zurückhielten, ist mit Sicherheit der allgemeinen Sympathie zuzuschreiben, die dieser Versuch genoß. Dennoch mußte die bis ins Detail angekündigte Einrichtung einer Sir Karl Popper-Schule um ein Schuljahr verschoben werden - ohne großen Gesichtsverlust übrigens.

In diese Zeit- und Nachdenkpause fielen entscheidende und erfolgreiche Weichenstellungen. Wie schon bei der Gründungsidee waren auch hier glückliche personelle Konstellationen ausschlaggebend. Während die Idee der Begabungsförderung in konservativen Kreisen auf abstrakte Zustimmung stieß, hatten sich auch eingefleischte konservative Pädagogen und Schulleiter eher abwartend verhalten. Dasselbe konnte, ohne den Schleier sympathiegetragener Diskretion zu lüften, auch von der neuen Ressortleiterin im Unterrichtsministerium und Nachfolgerin des intellektuell so begeisterungsfähigen Minister Erhard Busek gesagt werden. In dieser Phase ruhte nun die Verwirklichung des Sir Karl Popper- Projekts in den Händen von Einzelpersonen.

Eine solche war der Direktor des Bundesgymnasiums am Wiedner Gürtel, der schon vorher durch vielfältige Initiativen in der österreichischen Bildungslandschaft hervorgetreten war. Unzweifelhaft kein Sozialist, verkörperte er eine sehr bestimmte pädagogische Linie, die weniger von Parteigehorsam, dafür um so mehr von einem internationalen Bewußtsein geprägt war. Mit solchen Persönlichkeiten war Staat (und auch eine Sir Karl Popper-Schule?) zu machen: Günter Schmid war durchaus nicht als der unbestrittene Favorit seiner Gesinnungsgemeinschaft Direktor des traditionsreichen Wiedner Gymnasiums geworden. Er hatte sich seine Meriten durch zahlreiche pädagogische Entwicklungen verdient und konnte gerade die Fremdsprachenpädagogik und den österreichweiten Wettbewerb zum Fremdsprachenunterricht zu neuer Anerkennung und neuer Blüte führen. Überdies verkörperte er intellektuelle Redlichkeit, Durchsetzungskraft, Optimismus und politische Unbestechlichkeit, beides in der österreichischen Realpolitik ansonsten eher Nachteile denn Vorteile.

In der augenblicklichen Situation konnte man aber das Sir Karl Popper-Schulprojekt um diese Persönlichkeit - und wahrscheinlich nur um sie - glaubhaft ansiedeln: Günter Schmid war auch bei SP-nahen Direktoren und Schulaufsichtsbeamten hoch geschätzt, verfügte über internationale Verbindungen, hatte jahrelang an der Universität gelehrt und gearbeitet, und niemand konnte diesem tatkräftigen Humanisten nachsagen, daß er für Günstlingswirtschaft anfällig oder in seinem Gefühl für soziale Gerechtigkeit anzweifelbar wäre. Er war - und ist - in einer Situation, in der jede strukturelle Hilfe für das Sir Karl Popper- Schulprojekt ausblieb, der einzige personelle Ausweg. Es sollte ein idealer Ausweg werden.

Der Rest ist Geschichte, und die Geschichte der Gründung der Sir Karl Popper- Schule am Wiedner Gürtel ist bekannt. Unzumutbare räumliche Bedingungen (im Gebäude befand sich in den ersten Jahren bis zu Beginn des Schuljahr 2001/2002 eine zweite höhere Schule) wurden jahrelang in Kauf genommen; Diskussionen im Lehrkörper, der einer "Teilung der Oberstufe" des Wiedner Gymnasiums zum Teil skeptisch gegenüberstand, wurden erfolgreich geführt. Kaum nennenswerte Zuschüsse - die Stadt Wien hatte unter heftigem politischen Druck des VP-Vizebürgermeisters schlußendlich eine Jahressubvention von einer Million Schilling gewährt - konnten durch den Idealismus aller Beteiligten kompensiert werden. Völlig neue Aufnahme- und Auswahlverfahren wurden entwickelt, Pädagogen gewonnen, das Mißtrauen anderer Bundesländer still beseitigt, internationale Kooperationen vereinbart - rückblickend ist schwer zu beurteilen, welcher Kombination aus Tatkraft und Naivität, Fachwissen und Zufall, Idealismus und Glück die Gründung des Sir Karl Popper-Gymnasiums zu verdanken ist.

Mit Sicherheit war es eine einzigartige Konstellation bestimmter Persönlichkeiten, die in einem kurzen Zeitraum in bestimmten Funktionen waren. Sie realisierten in einer Art innerer Wahlverwandtschaft und in blindem Vertrauen zueinander ein Projekt, für das man jahrelang vergeblich eine solide politische Grundlage zu schaffen versucht hatte. Daß alle persönlich an dieser Schulgründung Beteiligten bis heute eine hohe und noch gewachsene Meinung voneinander haben, paßt in das Bild dieser einmaligen Konstellation.

Die Begabungsförderung hat in Österreich, allen in der Einleitung beschriebenen Schwierigkeiten zum Trotz, ein Fundament gefunden. Kein sehr breites. Im Bildungsministerium einen regen und idealistischen Fachmann, in Salzburg ein vom dortigen Landesschulratspräsidenten mit großer Energie und nach jahrelangem Kampf durchgesetztes Forschungszentrum, an der Universität Wien eine internationale Forschungskooperation, in mehreren Landesschulräten breitenwirksame Schulversuche. Die Begabungsförderung hat nicht, wie befürchtet, zur sozialen Elitenbildung geführt. Sie ist, ganz im Gegenteil, ein Beitrag zur Individualisierung der Pädagogik; keine sozialen Mechanik, sondern ein Eingehen auf die Interessen, die Neugierde, die speziellen Anlagen und Fähigkeiten eines jeden Kindes. Sie hat nicht zu der (auch vom Autor dieser Zeilen befürchteten) "Amerikanisierung" unseres Schulwesens ("Reiche Schulen für die Kinder der Reichen, arme Schulen für die Armen"; "Wer nichts hat soll auch nichts begehren") geführt, und wird hoffentlich auch nie dazu führen. In ihr wirken keine Sozialmechaniker, sondern Menschen, die auf Jugendliche eingehen.

Das Sir Karl Popper-Gymnasium war ein entscheidender Reformschritt der 90er Jahre, der nicht durch strukturelle Zwänge oder Vorgaben zu bestimmten Resultaten, sondern - Görg sei Dank - in einer personell einmaligen und in dieser Form unwiederholbaren Situation zu einer Schulgründung von Menschen für junge Menschen geführt hat.

"Wenn Menschen, selbst wenn sie sich nicht kennen, sich eines Tages begegnen sollen, was immer jedem von ihnen auch zustoßen mag und wie verschieden auch ihre Wege sein mögen, so werden sie unweigerlich an diesem Tag in dem roten Kreis zusammentreffen" (Rama Krishna, Le Circle rouge, 1970).

Das Ergebnis heute: In Wien steht die österreichweit führende Einrichtung für Begabungsförderung, nicht mehr und nicht weniger. Die Sir Karl Popper-Schule ist in das internationale Netzwerk führender begabungsfördernder Schulen eingebunden. Sie ist ein Stück österreichischer Schulgeschichte, verwirklicht von einigen Personen gegen Skepsis, Indolenz und gelegentlichen falschen Beifall.

Fest steht aber auch: Das Beispiel des Sir Karl Popper-Gymnasiums hat - zumindest in der institutionalisierten Form einer Schule - keine Nachahmer gefunden. Ein breiter "junger" Effekt ist nicht zu beobachten. Noch ist diese institutionalisierte Form der Begabungsförderung nur als Reform-Enklave möglich. Vergleichbare Initiativen von Kindergärten, den Grundschulen bis hin zu den Universitäten fehlen. Fast scheint es, als wären auch die Vertreter der Begabungsförderung nach der Gründung "ihrer" Schule zu ihrem zermürbendem Alltag zurückgekehrt - und fast auch, als wären die Gegner dieses verdienstvollen Projekts froh, wieder in Ruhe gelassen zu werden.

Dennoch ist Lob, Dank und auch ein Quentchen Stolz angebracht. Das österreichische Schulwesen ist um eine wesentliche Facette reicher geworden. Ein konkretes Modell wurde gegen alle Wetten realisiert. Was in ihm getan und gedacht wird, ist in der Welt und kann auch von anderen getan und gedacht werden. Und über der Schule am Wiedner Gürtel könnte ein Wahlspruch ihres Namensgebers Sir Karl Popper stehen: "Optimismus ist Pflicht".

Er soll auch in Zukunft das Leben dieser Schule bestimmen.

Kurt Scholz, Präsident des Stadtschulrats für Wien bis 2001

[1] Sammelband "Die Fortschrittmacher. Eliten und ihre gesellschaftliche Relevanz", hrsg. von Gerhard Feltl, Seite 17ff, Verlag Fritz Molden 2002